Theaterwissenschaft München
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Gastvortrag von Jun.-Prof. Dr. Julia Stenzel (twm Forschungskolloquium)

"Atopische Passionen. Der Weg nach Oberammergau als Weg ins Abseits"

24.01.2018

Foto Julia StenzelGastvortrag von

Julia Stenzel (Juniorprofessorin an der Johannes Gutenberg Universität Mainz)

"Atopische Passionen. Der Weg nach Oberammergau als Weg ins Abseits"

im Rahmen des TWM Forschungskolloquiums

Ort: Institut für Theaterwissenschaft, Georgenstr. 11, Raum 109
Zeit: Mittwoch, 24. Januar 2018, 12.15 - 14.00 Uhr (s.t.)

Abstract:
Once upon a time gab es ein Wenigeseelendorf im Bayerischen Hinterland, Oberammergau, das von der Pest heimgesucht wurde. Die Gemeinde schlug dem Herrgott einen Handel vor und gelobte, fürderhin alle zehn Jahre das Spiel vom Leben, Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus zur Aufführung zu bringen. Anno Domini 1634 feierte man zum ersten Mal Passion, und nach dem Spiel starb niemand mehr am Schwarzen Tod. So wollen es Chronik und Legende; und diese Ursprungserzählung prägt das Dorf und sein Spiel bis heute in Selbst- und Fremddarstellung; dies, obgleich man weiß, dass die Tradition viel weiter zurückreicht als bis 1634 und das Spiel heute ganz anders aussieht als in der Frühen Neuzeit.

Insbesondere im 19. Jahrhundert fanden entscheidende Transformationen des Dorfs und seines Spiels statt – nicht nur, was Text, Musik und szenische Ästhetik betrifft, sondern vor allem auch hinsichtlich der als Akteure und als Zuschauende Beteiligten: ‚Oberammergau’ – Dorf und Spiel – wurden zum internationalen Medienereignis und zum Touristenmagnet. Es kamen mitnichten nur gläubige Katholiken aus aller Welt ins Ammergau, sondern auch Sommerfrischler, Kulturreisende, Neugierige, Agnostiker auf Sinnsuche.

Letztere und deren Wege ins (und im) Dorf der Passion sollen im Zentrum meines Vortrags stehen. In Auseinandersetzung mit dem Begriff des Atopos, wie J. Rancière ihn in Anlehnung an die bekannten Selbstverortungen von Platos Sokrates entwickelt hat, will ich die Selbstrekonstruktion historischer Akteure als Entortete, als Atopoi, nachvollziehen. Rancières Begriff erlaubt es dabei, den Weg ins Andere in dreifacher Weise nachzuzeichnen: Als Weg ins Dorf, als Weg im Dorf und als Weg über die Bühne des Passionstheaters. Oberammergau kann so als ein Ort in den Blick kommen, der sich auf komplexe Art und Weise als Widerlager und als heterotoper Gegen-Ort zivilisatoprischer Raum-Ordnungen zu präsentieren scheint: Als Neues Jerusalem, als Mittelalter, nicht zuletzt als Theater der Wahrheit.

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